Schreiben ist unsichtbar

Ich habe Schlachten geschlagen, mich verliebt, bin falsch abgebogen, durch gefährliche Nebel gewandert, mehr als einen Tod gestorben. Ich war weise, verrückt, lebensmüde, erschöpft, angespannt oder unfreiwillig komisch.

Ich war das für mich. Und es war besser als jeder Film. Manchmal wünschte ich allerdings, schreiben wäre nicht unsichtbar. Ich würde euch gern die Tür zeigen, durch die ich fast jeden Tag gehe.

Sie öffnet sich leise. Oft genug merke ich nicht einmal, dass ich hindurchgehe. Ich lasse Geräusche und Alltags-Gedanken hinter mir, konzentriere mich auf das, was mich auf der anderen Seite erwartet.

Fremde Welt ...

Eine Landschaft breitet sich aus. Mit jedem Schritt, den ich gehe, vervollständigt sie sich. Eine Landschaft zu erschaffen fällt mir leicht. Die Bilder sind auswechselbar wie bei einem Diaprojektor, Details wachsen aus dem Nichts – sie duften, sie stinken, sie sind gefährlich oder farbenfroh.

Mit den Menschen ist es sehr viel schwieriger. Erst sind sie nur Schatten. Selbst wenn ich sie bereits kennengelernt habe, dauert es eine Weile, ihnen auf die Spur zu kommen. Ich muss mich erst auf die Suche nach ihren Gedanken und Gefühlen machen, die um mich herum verstreut sind. Manchmal erwische ich nur eine kurze Momentaufnahme, die reichen muss, um ihn oder sie zu finden.

Ab und zu lassen sie mich abblitzen. Sie drehen mir eiskalt den Rücken zu und verschwinden, woher sie gekommen sind. Dann stehe ich allein in der fremden Welt. Ich habe die Wahl: Ich kann ihnen hinterherrennen, den Schauplatz wechseln oder ihn mit neuen Personen füllen.

... mit unbekannten Darstellern

Eine neue Person ist schnell skizziert. Ich zeichne ihren Körper, radiere, bessere nach und kleide sie flüchtig ein auf der Suche nach dem, was mir am wichtigsten ist – ihr Gesicht. Ein Blick in ihre Augen verrät mir, mit wem ich es zu tun habe. Doch so einfach macht sie es mir nicht.

Jede Person strahlt ein Gefühl aus oder umgibt eine Stimmung wie z.B. Anspannung, Langeweile, Frustration, Angst, Sehnsucht. Sie ist ein erster Hinweis auf den Charakter, der sich dahinter verbirgt. Das Gefühl oder die Stimmung gehört zu einer Situation. Die Person wartet z.B. auf einen unsichtbaren Feind. Das kann ein anderer Krieger sein, jemand, der bei einer früheren Auseinandersetzung beinahe gewonnen hätte.

Über das Gefühl oder die Stimmung arbeite ich mich vom ersten Bild zum nächsten. Die Kleidung, Haltung und die Statur ändern sich, passen sich der Begegnung an.

So schlicht das Äußere der Person ist, desto mehr kann sie mich mit ihren inneren Werten in die Irre führen. Statt der Angst bestimmt plötzlich Enttäuschung das Bild. Enttäuschung, weil der Ängstliche nicht in die Familie geboren wurde, die er gern gehabt hätte. Frust, weil ihm die Werber im Dorf Ehre und Reichtum versprochen haben, stattdessen steht er einem übermächtigen Feind gegenüber.

Die Person will mich ablenken, mich in ihre Vergangenheit entführen, vom Ort des Geschehens weglotsen. Sie möchte, dass ich ihr trauriges Leben auseinandernehme, bevor sie es mir gestattet, ihr ins Gesicht zu sehen.

..die verführen

Manchmal sind diese Personen zu interessant. Ich setze mich zu ihnen, höre zu, obwohl ich auf meine Uhr tippen und sie zur Eile ermahnen sollte. Sie öffnen die Tür zu der Hütte, in der sie ihre Kindheit verbracht haben. Ich kann nicht widerstehen. Eine weitere Tür, eine weitere Ebene.

Allerdings ist es nur nicht nur eine weitere Ebene, es ist eine komplett neue Welt. Sie zu betreten, heißt die Zielperson aus den Augen zu verlieren und dafür auf die Suche nach weiteren Gesichtern zu gehen. Manchmal gönne ich mir diesen Luxus, lasse mich entführen und verführen. Ich atme ein völlig anderes Leben ein, wandere durch neue Landschaften.

... und ablenken

Bis ich einen Schlussstrich ziehe, mir den Ängstlichen vorknöpfe und ihn entweder zurück in seine Erinnerungen schicke oder mit ihm an den ursprünglichen Schauplatz zurückkehre. Der Ausflug in sein Leben macht es mir leichter, ihm ins Gesicht zu sehen. Sein Ausdruck wird von mehr als nur Angst bestimmt. Er fleht mich an, es nicht zu tun, aber ich muss ihn opfern, um meiner Hauptperson zu folgen.

Je nachdem wie viel Zeit mir bleibt, renne ich, was das Zeug hält und hole die gewünschte Person ein. Ich bin wütend, weil sie sich mir entzogen hat. Die Wut ist mein Ansporn. Immerhin musste ich einen enttäuschten ängstlichen Soldaten opfern, um sie zu finden.

Sie möchte es mir so einfach wie möglich machen. Sie erinnert mich an die letzte Szene und verspricht, mich nicht mehr abzuhängen, sondern lädt mich ein, ihr zu folgen. Da wir schon oft gemeinsam zur tieferen Ebene gereist sind, kann ich mühelos das Tempo halten, jederzeit ihren Gesichtsausdruck studieren.

Dabei bin ich auf der Hut, denn auch diese Person möchte mir trotz unserer Freundschaft gern die Entstehung jeder noch so kleinen Falte erklären. Ich lehne augenzwinkernd ab, denn ich habe bereits einen Umweg in Kauf genommen, um sie zu treffen.

Ausgang

Selbst wenn meine Tür nicht von außen geöffnet wird, zeichnet sich ihr Umriss irgendwann ab. Details der Landschaft oder von Räumen und Gebäuden verblassen. Ich muss einen Teller mehrmals in die Hand nehmen, um ein Blumenmuster darauf zu erkennen. Der Sommertag gleicht einem leblosen Postkartenmotiv.

Dann ist es Zeit, den Verkehrslärm wieder in mein Leben zu lassen, das Klappern des Briefkastendeckels, den knurrenden Magen. Ich bin froh darüber, dass ich die Tür zurück öffnen durfte und sie nicht aufgerissen wurde.

Wenn ich kann, gehe ich nicht sofort. Ich lasse die Tür gern angelehnt, damit ich einen Blick durch den Spalt werfen kann. Das macht den Abschied nicht so schwer, bis ich sie beim Hinausgehen endgültig schließe.

Die Wirklichkeit ist oft genug eine Herausforderung. Es fehlt die Leichtigkeit, die Wandelbarkeit von Dingen. Ich sehe in ein Gesicht und es ist ein Gesicht. Die Emotionen erahne ich, äußere Einflüssen und Gegebenheiten lenken ab.

Später lese ich Sätze, die bruchstückhaft wiedergeben, was ich auf der anderen Seite der Tür gesehen und erlebt habe. Szenen werden gelöscht oder abgeheftet. Eine lange Wegstrecke reduziert sich auf wenige Meter.

Heute lasse ich meine Tür angelehnt. Ihr könnt einen Blick auf die andere Seite werfen, aber versucht nicht, den ängstlichen Krieger zu entdecken. Er ist fort. Sein Leben dauerte nur wenige Minuten.

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