Manchmal frage ich mich, ob ich genug Ideen habe, um weiterzuschreiben. Oder werden sie mir eines Tages ausgehen? Sitze ich dann vor einem leeren Blatt und warte vergeblich, dass die Inspiration durch meine Tür kommt und mir eine Idee ins Ohr flüstert?
Ein Schrank voller Schreibideen
Um es gleich vorwegzunehmen: ich weiß, dass mir die Geschichten nie ausgehen werden. Auch wenn in meinen Schreibschubladen gerade einmal vier Ideen vor sich herschlummern, bzw. teilweise aktiv sind, hat dieser Schrank noch unendlich viele weitere Schubladen. Die Beschriftung kann ich noch nicht entziffern – brauch doch endlich mal eine Brille (!!) – aber, wenn es sein muss, kann ich wahllos eine Schublade aufziehen und eine Geschichte kriecht heraus.
Ich kann mich auf meine Inspiration verlassen, weil sie trainiert ist. Wir haben viel miteinander geübt. Sie kennt mich und ich kenne sie. Ich kann euch meinen (Musen-) Trick verraten, aber so unterschiedlich Menschen sind, so wandlungsfähig ist auch die Inspiration. Meine Muse liebt Galerien. Damit meine ich nicht nur Kunstgalerien – da fühlt sie sich sogar eher unwohl, nein, es sind die Bilder im Kopf.
Screenshots vom Kopfkino
Wenn mir jemand etwas erzählt, entsteht dabei ein Abbild in meinem Kopf. Lese ich ein Buch, läuft ein Film ab – ein paar Screenshots davon überleben tatsächlich Jahrzehnte, obwohl ich den Inhalt des Buches lang vergessen habe. Besonders intensiv und farbenfroh ist die Tagtraum-Galerie.
Aus einem dieser Tagträume meiner Teenager-Zeit begleitet mich das Bild einer weißen Yacht bis heute. Sie gleitet durch die Wellen. Es ist ein schöner Tag, doch die Stimmung an Bord ist gedrückt. Die vier Personen auf dem Boot sind auf der Flucht. Sie können immer nur kurz anlegen, müssen befürchten, entdeckt zu werden. Eine von ihnen ist ein junges Mädchen, der Mittelpunkt des Bildes. Die Zwangsgemeinschaft hat sich wegen ihr gebildet, um sie zu schützen, wovor auch immer.
Als Teenager habe ich intensiv an dieser Geschichte geschrieben, aber ein Grund, warum ich gescheitert bin, war die Location. Weder bin ich jemals gesegelt, noch ist meine Familie großartig auf Weltreise gegangen. Ich habe zwar versucht, mir diese Welt in meiner Fantasie zu erschließen, aber es ist nur bedingt gelungen.
Dennoch hat mich dieses Motiv nicht losgelassen. Ich habe stattdessen das magische Schloss meiner Vorstellungskraft benutzt, das Schlüsselbild solange zu verändern, bis ich das Problem mit der Umgebung lösen konnte. Inzwischen ist daraus eine völlig andere Geschichte entstanden, aber das Grundbild ist geblieben: Ein Teenager allein und verfolgt, ausgeschlossen vom Alltag und ausgesetzt in einer von ihr kaum beeinflussbaren Realität.
Auch bei meinem zweiten Schreibprojekt Jules liegt ein einzelnes Bild zugrunde. Welches das ist, verrate ich nicht, denn es ist die Schlussszene. Die Bilder sind jedoch so intensiv, dass ich nicht anders kann, als sie in Geschichten umzusetzen. Brauche ich also eine neue Idee, muss ich mich nur auf die Bildersuche begeben.
Meine Muse ist eine Diva
Dabei entstehen meine Inspirations-Bilder nicht nur durch Tagträume, sondern auch durch echte greifbare Bilder, wie z.B. bei der Pinterest-Sammlung Inspiration for writers. Ein Bild auf dem Computerbildschirm ist lange nicht so intensiv, wie eines aus einem Traum, aber aus dem Standbild kann ein Film werden . Der Film führt mich zu einem Raum, in dem die Inspiration wartet. Füge ich jetzt noch passende Musik hinzu, beginnt meine Muse aufgeregt hin- und herzuhüpfen, kann es gar nicht abwarten, gehört zu werden.
Diese nervige Muse ist allerdings die Ausnahme. Sie ist eher eine Diva, die auf ihre Fingernägel starrt, sich über den perfekten Körper streicht, um sich zu versichern, dass die Designer-Klamotten gut sitzen, statt mir eine Antwort zu geben. Vor allem, wenn wir bei der Schreibgruppe Federreiter an einer Schreibübung arbeiten, sieht sie mich mit diesem besonderen Augenaufschlag an, der andeuten soll, ich wäre ihr mehr als einen Gefallen schuldig.
Zum Glück kennen wir uns seit Jahren. Wir sind ein Team. Sie lässt mich nicht im Stich. Sie mag sich manches Mal zieren, aber wir haben unsere Auseinandersetzungen hinter uns gelassen. Wir wissen, dass wir von- und miteinander leben müssen. Irgendwann gibt sie ihren Widerstand auf. Sie flüstert mir zu oder schiebt ein Foto über den Tisch. Bei anderen Autoren mögen es Wörter sein, mich beeindruckt sie mit Bildern.
Wenn Musen rauchen
Vergangene Woche verwandelte meine vorlaute Muse einen langweiligen Plastik-Gartenstuhl. Er stand vor dem Fenster unseres Schreibgruppenraums in der Sonne. Wir sollten den Stuhl, die Wiese, den Baum und die dahinterliegende Mauer – die Rückwand einer Werkstatt – in unsere 10-Minuten-Schreibübungs-Einheit übernehmen. Meine Inspiration ließ einen Mann in Sicherheitskleidung auf dem Stuhl Platz nehmen.
Selbst jetzt sehe ich ihn noch deutlich vor mir. Ein Steinmetz. Auf dem dunklen Stoff seiner Hose haftet Staub, die kräftige Hand hält eine Zigarette. Er ist kein nachdenklicher Typ, doch dieser Morgen ist anders. Aus der täglichen Pause auf dem Plastikstuhl wird ein Ausflug in seine Vergangenheit. Er erinnert sich an den Mann, dessen Grabstein er gerade bearbeitet. Er war ein Freund. Sein Leben – so lang wie eine Zigarettenpause.
... und sich nicht beirren lassen
Ich bin immer wieder überrascht, welche Schublade meine Inspiration für mich öffnet. Wenn sie zickt, dann eigentlich nur, weil ich sie dazu zwingen will, ein ganz bestimmtes Fach zu öffnen. Sie lässt sich nicht beirren. So arrogant sie auch sein mag, sie weiss, dass die intensivsten Bilder nicht der Fantasie sondern dem Leben entspringen. Alles, was sie macht, ist ein Verbindung zwischen zwei Welten herzustellen.
Was ich aus diesen vielen Jahren Schreiben mitgenommen habe? Die Inspiration ist immer da, auch wenn sie nicht spricht. Sie begleitet euch. Lernt, sie zu verstehen. Findet eine gemeinsame Sprache, dann habt ihr – wie ich – eine überhebliche, aber dafür sehr kreative Freundin fürs Leben.