Aussicht
Leben in der zweiten Reihe
Vor etwas über zwei Jahren hatte ich die glorreiche Idee, meinen Job zu kündigen, um ein paar Monate zu schreiben. Ohne Zwang, mit viel Zeit.
Ich wollte eine Weile von meinen Ersparnissen leben. Doch bereits nach wenigen Tagen stellte sich die Frage: was kommt danach?
Wann ist danach? Was werde ich für Arbeit finden? Lassen sich Arbeiten und Schreiben verbinden?
Ich hatte nicht allzu lange Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, denn mein Partner wurde krank. Aus der Schreibzeit wurde eine „Ich bin für dich da und übernehme alles“-Zeit. Zwischendurch habe ich ein wenig geschrieben, aber mit jedem Monat, der verging, kam der neue Job näher und mein Konto leerte sich zusehends.
Dazu gesellte sich die Idee, beruflich einen neuen Weg einzuschlagen. Mein letzter Job hatte mich unterfordert und ich sehnte mich danach, etwas zu tun, bei dem meine langjährige Erfahrung auch benötigt wurde.
Ein klassischer Konflikt, denn einerseits wollte ich dringend mit meinem Romanprojekt Hanna weiterkommen, andererseits brauchte ich Geld und das wollte ich nicht in irgendeinem seelenlosen Job verdienen.
Manchmal gibt einem das Leben das, was man sich wünscht
Leider hatte die Erfüllung meiner Wunschvorstellung weniger mit „Hanna“ zu tun, als mit einem neuen Job.
Mir bot sich die Chance, in einen ganz anderen Bereich einzusteigen, nochmal komplett von vorne anzufangen und vor allem: viel zu lernen.
Diese Chance wollte ich unbedingt nutzen, auch wenn das Gehalt nicht stimmte und mein Partner immer noch krank war.
So zog ein Jahr an mir vorbei. Im Eiltempo mit Arbeitstagen, die um ein vielfaches länger waren als bei den letzten beiden Jobs vorher.
Das klingt vielleicht gerade nach „Pech gehabt“, aber ich habe diese Zeit als erfüllt in Erinnerung. Zum ersten Mal arbeitete ich durchgängig im Homeoffice. Damit ich ungestört arbeiten konnte – mein Partner war leider immer noch krank – zog ich tagsüber zu meinem Vater.
Die Wohnung stand zu dem Zeitpunkt sowieso leer, da er bei seiner Freundin lebte.
Der schönste Sommer?
Mein improvisierter Schreibtisch stand mitten im Wohnzimmer mit dem Blick in den Garten.
Meine Stühle wechselten je nach Befindlichkeit zwischen Küchenstuhl, Terrassenstuhl oder Hocker. Da mein Vater nie ein Homeoffice in seiner Wohnung geplant hatte, gab es natürlich auch keinen bequemen Bürostuhl. Dafür aber einen Apfelbaum direkt vor der Terrasse.
In der Pause setzte ich mich auf die Treppenstufen zum Garten und biss in einen sonnenwarmen Apfel. Ganz anders als in meinem vorherigen Job mit ständigem Telefonklingeln und Aufgaben, die plötzlich dringend vor anderen erfüllt werden mussten. Und wenn sie erledigt waren, teilweise schon nicht mehr relevant waren.
Es hätte die schönste Zeit werden können, wenn nicht langsam der Kontostand gedrückt hätte. Außerdem meldet sich „Hanna“ in meinen Hinterkopf. Was ist mit mir? Hast du mich aufgegeben?
Ich führte mehr als eine Diskussion mit ihr.
„Wenn ich jetzt einen Job lerne, der mir Spaß macht und Geld bringt, dann habe ich wieder Zeit für dich.“ Ein Versprechen oder eine Ausrede?

Hätte ich nur auf mich gehört
Was würde ich einer Freundin raten, die mir erzählt, dass sie intensiv an ihrer beruflichen Karriere arbeitet, während sie gleichzeitig mehr (Frei-) Zeit mit Schreiben verbringen möchte?
Vielleicht hätte ich diese beiden Fragen gestellt:
Was willst du?
Für wen willst du das?
Ziele sind einfach. Sie kleben am Himmel wie die Sonne. Hell und strahlend, nur manchmal durch ein paar Wolken getrübt. Ich denke, die meisten von uns können ihre Ziele mal eben so aus dem Ärmel schütteln.
Mit der Beantwortung der Frage 2 wird es schon deutlich schwerer. Gerade wenn es ums Lügen geht, ist man sich selbst gegenüber am besten, oder?
Ich habe meine persönlichen Antworten gefunden, aber es brauchte ein weitere sehr schwere Entscheidung, um zu erkennen, dass ich diese Fragen richtig beantwortet habe, aber falsche Prioritäten gesetzt habe.
Deine Priorität im Leben?
Nachdem ich jetzt so viel von mir erzählt habe, gebe ich dir einen Moment, um dich selbst zu fragen. Was ist ist dir wichtig? Was willst du? Du! Und nur du?
Was tust du, damit sich dein Leben richtig für dich anfühlt?
Was bist du bereit zu opfern? Denn sein wir mal ehrlich, ohne Kompromisse funktioniert es in den meisten Fällen nicht …
Tiefpunkt
In Storys ist es üblich, dass dem Held oder der Heldin plötzlich alle Auswege versperrt sind und ihnen nur noch bleibt, sich zu fügen bzw. dem Bösewicht zu ergeben oder sich heldenhaft in den Abgrund zu stürzen.
Für mich kam dieser Wendepunkt schleichend. Erst gaben mir immer mehr Freunde einen Kaffee oder ein Stück Kuchen aus, dann bestellte ich zum ersten Mal gebrauchte Klamotten im Internet, weil ich sie mir neu unmöglich leisten konnte.
Für Hanna hatte ich inzwischen wieder mehr Zeit, aber das Konto war so gut wie leer. Der finanzielle Druck wuchs und heftete sich wie ein Schatten an meine Kreativität.
Beruflich hatte ich erreicht, was ich wollte und war damit mehr als zufrieden, aber den Erfolg auszukosten, hätte einen für mich bitteren Kompromiss bedeutet.
F: Was willst du?
A: Einen beruflichen Neuanfang und Hanna fertig schreiben.
F: Für wen willst du das?
A: Für mein Konto, die Anerkennung und den Spaß am Brotjob. Für mich.
Der Wendepunkt
Um doch noch heil aus der Sache herauszukommen, erhält der Held oder die Heldin unerwartete Unterstützung oder hat eine Fähigkeit entwickelt, die ihm/ihr in der dunkelsten Stunde hilft.
Was in Romanen nur wenige Sätze in Anspruch nimmt, kostete mich Tage und Wochen. Welchen Weg sollte ich einschlagen? Wie komme ich an mehr Geld? Anerkennung? Bestätigung?
Die Erkenntnis war wie eine Straße in der Dämmerung, an der nach und nach wie bei einem Countdown die Beleuchtung anspringt. Ich hatte den beruflichen Neuanfang geschafft. Das Geld, die Anerkennung, die Bestätigung waren entweder schon da oder lockten in greifbarer Entfernung.
Doch da gibt es diese Kleinigkeit: eine Entscheidung fällen wir oft viel früher, als uns bewusst wird.

Die Auflösung
Im Roman sieht man es kommen. Die Vorzeichen verraten uns, welchen Weg der Held oder die Heldin nimmt. Doch das fällt uns eher bei der nachträglichen Analyse auf. Schließlich wollen wir Spaß haben, überrascht und mitgerissen werden, also fiebern wir dem Höhepunkt entgegen und belohnen uns mit der hab-ich-gleich-vermutet wohlverdienten Auflösung.
Im Nachhinein sehe ich sie auch bei mir im Laufe der letzten Jahre: die Vorzeichen. Angefangen mit diesem Blog und als vorläufiger Schlusspunkt dieser Beitrag.
Ich habe sehr viel Kraft gebraucht, den Weg bis hierher zu gehen. Fast etwas zu viel. Meine Triebfeder all die neuen Dinge zu lernen, mich immer wieder zu motivieren, weiterzugehen und noch mehr zu wollen war Ehrgeiz mit Anflügen von Leidenschaft.
Doch wenn die gesteckten Ziele erreicht sind, was bleibt dann vom Ehrgeiz? Weitere Herausforderungen? Die nächste Hürde, die man auf dem Endlos-Parcours aufbaut, damit es nicht langweilig wird?
Ich habe mir die Fragen erneut gestellt und versucht, so ehrlich wie möglich zu antworten.
F: Was willst du?
A: Hanna fertig schreiben und nebenbei in einem Job arbeiten, der mir Spaß bringt.
F: Für wen willst du das?
A: Für mich und jemanden, dem ich damit helfen kann, sein leidenschaftliches Ziel zu erreichen.
Die Aussicht
genieße ich aus der zweiten Reihe
Der Titel zu diesem Beitrag ist schon ein paar Monate alt. Eigentlich wollte ich beschreiben, wie es auf meiner neuen Ich-Insel aussieht. Wie ich mich dort eingerichtet und welche Pläne ich habe.
Als ich zu schreiben angefangen habe, habe ich jedoch gemerkt, dass da mehr raus will. Ich mag meinen Job. Ich bin gut in dem, was ich gelernt habe. Er bringt mir Spaß. Und Momente mit sonnengewärmten Äpfeln.
Doch wenn ich schreibe, dann beiße ich auch innerlich in einen sonnengewärmten Apfel. Ich tauche in eine fremde Welt ein. Ich beantworte mir Lebensfragen, verarbeite positive als auch negative Erfahrungen. Ich erinnere mich an Momentaufnahmen, versuche in dem ganzen Chaos, das uns umgibt, der Einfachheit nachzuspüren. Und hab sie für mich gefunden …
… in der zweiten Reihe mit der Leidenschaft fürs Schreiben, gefolgt von dem Ehrgeiz im Beruf.
Warum das wichtig ist?
Wenn ich beim Schreiben eine Figur mit Tiefe erschaffen möchte, muss ich herausfinden, was sie will und auch was sie braucht.
Das können nicht nur zwei unterschiedliche Dinge sein, sondern sogar sich widersprechende. Die Figur versucht etwas zu erreichen, was sie will (toller Job) und arbeitete gleichzeitig gegen das, was sie braucht (mehr Zeit fürs Schreiben).
Im echten Leben lassen sich die Konflikte daraus nicht immer lösen, aber sie klar einzuordnen, ihnen die passende Gewichtung zu geben, hilft dem inneren Frieden und gibt einem die Chance auf einen Kompromiss.
Also öffne ich die Terrassentür, sitze an meinem Lieblingsschreibplatz, höre den Vögeln und dem Berufsverkehr zu und genieße die Frühlingssonne auf den Beinen.
Heute gehört der Tag dem Schreiben, morgen wieder dem Beruf.
