Ein eiskalter Wind beendet das Familienzusammentreffen vor der Tür des Restaurants. Der sibirische Luftstrom dringt in halb geschlossene Jacken. Mützen, Handschuhe und Schals werden eilig übergestreift. Regenschwere Wolken jagen im Eiltempo über das Hafenbecken.
Alle wollen nur noch nach Hause. Zurück in die Wärme, bevor der nächste Schauer kommt. Auch ich beuge mich über mein Rad, hantiere mit dem Schloß, obwohl mein Interesse eher dem Wetter gilt. Mein Rucksack ist schwerer als sonst. Ich habe die Kamera mit ins Restaurant genommen.
Vom bedrohlich dunklen Himmel schweift mein Blick hinüber zum Markplatz. Es wäre nur ein kleiner Umweg. Ein Foto von dem bunten Bauwagen, der gleich neben der backsteinroten Markthalle steht.
„Ich schieße nur schnell ein Foto und komme dann nach! Oder will jemand mit?“
Mein Mann kuschelt sich tiefer in seine rote Jacke, murmelt ein „ok“ und schließt zu meiner Tochter auf.
„Du?“
Mein Kind schüttelt den Kopf. Ihr Blick spricht Bände. Mamas neue Leidenschaft fürs Fotografieren ist ihr peinlich. Mein Vater hat von alledem nichts mitbekommen, sitzt bereits auf dem Rad und steuert auf den Markplatz zu.
Sekunden später bin ich allein. Der Wind drückt mir in den Rücken, zerrt an meinen Haaren. Ich habe meine Mütze vergessen, die Kamera war mir wichtiger. Entschlossen beiße ich die Zähne zusammen. Wenigstens ein Foto möchte ich heute noch knipsen. Bauwagen, ich komme!
Meine Familie verlässt den Sichtbereit. Ich schwenke nach rechts über den Marktplatz, fahre genau auf den Bauwagen zu. Hinter mir verfinstert sich der Himmel. Doch es ist nicht nur das trübe Licht, das meine Vorfreude schmälert. Die Grafitis sind bunt, aber den Schriftzug, der sich über die ganze Länge zieht, möchte ich nicht fotografieren.
Vielleicht habe ich mehr Glück mit der Rückseite? Leider führt der einzige Weg dorthin über ein Firmengrundstück. Das Tor zum Gelände ist offen, aber das „Unbefugten ist das Betreten verboten“ Schild ist unübersehbar. Im Fahrradkorb liegt die Kamera. Soll ich aufgeben?
Ohne lange darüber nachzudenken, schwinge ich mich wieder in den Sattel. Quer über den gepflasterten Hof geht es zur Rückseite des Bauwagens. Ich bin vorbereitet, aber niemand ruft. Die Fenster bleiben geschlossen, keiner scheint sich an meiner unbefugten Anwesenheit zu stören.
Dennoch beeile ich mich mit den Fotos. Ich bin zu hastig, so kann es nichts werden, bestimmt sind die wenigen Bilder – trotz idiotensicherer Elektronik – verwackelt. Außerdem enttäuscht auch die Rückseite des Bauwagens. Die Farben der Graffitis sind verblasst und die Motive von Moos überwuchert.
Enttäuscht nehme ich die Verfolgung meiner Familie auf. Die Kamera ist sicher im Rucksack verstaut. Der Wind schiebt mich ein paar Meter. Ich brauche kaum in die Pedale zu treten, um vorwärts zu kommen.
Finster hebt sich das vom Verfall gezeichnete Bürogebäude der Post vor dem hellgrauen Himmel ab. Rund 65 ha sollen im Stadtkern saniert werden, die meisten Gebäude stehen bereits leer. Eingeschlagene Fenster, wehende Gardinen. Tristesse, die niemand mehr sehen mag, der hier lebt.
Ein Bau hebt sich allerdings von allen anderen ab: die alte Lederfabrik. Es reizt mich schon lange, sie zu fotografieren. Ich kämpfe mit mir, will vorbeifahren, als mir zum ersten Mal die breite Zufahrt auffällt, die auf mich wie eine Einladung wirkt.
Im letzten Moment bremse ich, reiße den Lenker herum, holpere über Risse und durch trockene ausgeblichene Grasbüschel auf die beeindruckend hohe Backsteinfassade zu. Zertümmerte Fensterreihen vor regengrauer Kulisse. Überall hängen Warnschilder: „Bei Betreten des Gebäudes besteht Lebensgefahr“.
Überrascht stelle ich mein Fahrrad zwischen Hochbeeten und unter den wachsamen Augen eines überlebensgroßen Cyborg-Graffiti-Tigers vor dem Gebäude ab. Unbeirrt der Trümmer und der überall sichtbaren Verwahrlosung hat jemand einen Garten angelegt. Ich entdecke eine überdachte Bank, mehrere Sitzplätze, bepflanzte Eimer und sogar ein bunt bemaltes als Blumenbeet umfunktioniertes Auto.
Kaum habe ich mit dem Fotografieren begonnen, als ein Auto von der Straße abbiegt und auf das verlassene Fabrikgelände fährt. Ein Mann steigt aus dem Kleinwagen. Er lächelt freundlich, kommt auf mich zu. Die Straße ist plötzlich weit weg, ebenso mein Fahrrad.
Er sieht nett aus, sympathisch. Etwas jünger vielleicht, aber auch bei ihm gräbt schon der Zahn der Zeit im Gesicht. Er beginnt eine Unterhaltung. Er möchte mehr über das Gartenprojekt und das Gebäude wissen. Ich kann erschreckend wenig dazu beisteuern, seinen Wissenshorizont zu erweitern.
Er wirkt entspannt, konzentriert sich ganz auf mich, während wir reden. Angeblich hat der Fremde die Lederfabrik zufällig im Vorbeifahren entdeckt. Dabei wird die Zufahrt von einem vorgelagerten Gebäude verdeckt.
Bevor meine Fantasie mit mir durchgeht, verabschiede ich mich und gehe zurück zu meinem Fahrrad.
Erst jetzt entdecke ich, dass eines der Absperrelemente fehlt. Rechts neben dem Gebäude klafft ein große Lücke im Zaun. Doch es ist eine Sache in aller Öffentlichkeit vor einem Gebäude zu stehen und eine ganz andere vor den Augen eines Fremden in einen einsamen Schatten abzutauchen.
Ich beschließe, endlich auf die Warnglocken in meinem Kopf zu hören. Außerdem hält die Regenpause bereits ungewöhnlich lange an.
Obwohl ich endlich die gewünschten Fotos habe, bin ich enttäuscht. Ich wollte mehr. Ob ich es hinter der Lücke im Zaun gefunden hätte?
Trotzig biege ich hinter dem Fabrikgebäude ab, um es von der Seite zu fotografieren. Noch mehr zertrümmerte Fenster, besprayte Holzplatten, die Abenteuerlustige fernhalten sollen. Regentropfen mischen sich unter die Böen.
Ein letzter Blick durch den Sucher. Ich entdecke eine Treppe. Und mit einem Mal bin ich nicht mehr draußen. In Gedanken laufe ich die Treppe hinauf. Ich betrete eines der leeren Stockwerke, sehe den grauen Himmel durch die zerstörten Scheiben, Müll, der sich in Ecken sammelt.
Doch da ist mehr. Ich spüre die Vergangenheit. Sie ist zum Greifen nahe. Dampf, Maschinen, Menschen in altmodischer Arbeitskleidung. Die Stimmen der Arbeiter dringen durch die Zeit zu mir. Die Fabrik ist ihr Alltag. Sie ahnen nicht, dass die besten Jahre bereits hinter ihnen liegen.
Bevor das Bild farbiger wird, reißt mich eine Bewegung zurück in die Gegenwart. Ein Autofahrer ignoriert die Bauabsperrung der aufgerissenen Seitenstraße. Ich muss mich auf dem ehemaligen Fußweg in Sicherheit bringen. Als er vorbei ist, gleitet mein Blick wieder an der Fassade empor. Alles was ich sehe, ist Zerstörung. Die Fabrik ein Opfer der Zeit.
Dennoch bin ich etwas auf der Spur. Den düsteren Himmel und den eisigen Wind ignorierend, schwinge ich mich auf mein Fahrrad und arbeite mich mit der Kamera durch die nächsten Seitenstraßen, bis ich wieder am Hafen bin. Dieses Mal auf der gegenüberliegenden Seite des Hafenbeckens.
Ich fotografiere ein leerstehendes Haus mit einer blauen Tür. Der flüchtige Sonnenstrahl, der mich hergeführt hat, verschwindet. Stattdessen mischen sich erneut Regentropfen in den Wind, der sich mit aller Macht zwischen die hochaufragenden Gebäude am Hafen presst und mir den Riemen der Kamera ins Gesicht peitscht.
Eine Frau mit Kinderwagen kämpft sich am Wasser entlang in meine Richtung. Sie hat sich tief in ihrer Jacke vergraben, dreht sich, damit sie dem Regen entgeht. Ich muss mich beeilen, wenn ich noch ein Foto von der blauen Tür machen möchte. Ich zoome die Haustür heran, entdecke die Spuren, die der Regen auf dem ausgeblichenen Lack hinterlassen hat, die ungewöhnlichen Rundungen der Fenster.
Mein Hand streckt sich nach der eisernen Klinke aus. In Gedanken öffne ich die Tür, trete in den Flur. Wieder falle ich durch die Zeit, verändert sich die Welt um mich herum, begegne ich Menschen, an die sich niemand mehr erinnert. Plötzlich ist alles möglich. Ich brauche nur an einen Gegenstand denken und er entsteht vor meinem inneren Auge.
Endlich begreife ich, wonach ich die ganze Zeit gesucht habe. Lachend trete ich aus meinen Gedanken zurück in die Wirklichkeit.
Der Wind tobt durch die Häuserschlucht. Eine Fahrradfahrerin auf dem Weg Richtung Hafen prallt gegen seine unsichtbare Wand, kommt nur mit Mühe vorwärts. Die Frau mit dem Kinderwagen ist fast auf meiner Höhe. Irrtiert mustert sie mich. Es regnet. Die eiskalten Tropfen sind überall. Nasse Haarsträhnen klatschen mir ins Gesicht und ich lache immer noch. Ich ahne, was sie denkt. Der Wind zerrt an der Kamera, die ich weiter fest umklammert halte.
„Ich stehe hier nur wegen diesem Ausblick!“, rufe ich der Frau mit dem Kinderwagen gegen den Wind zu. Sie bleibt stehen, dreht sich um. Ein doppelter Regenbogen spannt sich über den Hafen. Ihr Blick kehrt zu mir zurück. Wortlos setzt sie ihren Weg fort.
Der zweite Regenbogen ist kaum noch zu sehen, aber auch so ist die Regenpause willkommen.
Ungeschützt warte ich den Regenschauer ab, fotografiere die Tür aus der Nähe. Der eiskalte Regen findet seinen Weg, klebt die Hose an meinen Beinen fest, läuft mir in den Nacken. Alles nur für ein paar Fotos? Wohl kaum.
Während ich fotografiere, diskutiere ich mit mir. Obwohl ich weiß, dass es eigentlich schon zu spät ist, wenn ich mir die Frage überhaupt stelle. Ich habe mich schon entschieden.
Ich kehre auf das Gelände der alten Lederfabrik zurück. Dieses Mal bin ich ungestört. Ohne zu zögern, zwänge ich mich durch die Öffnung im Absperrgitter und tauche in den Schatten des hoch aufragenden Fabrikgebäudes ein.
Ein langer tunnelartiger Gang liegt vor mir. Düster und abweisend. Noch mehr zerschlagene Fenster, Warnschilder, Gitter. Der Boden ist aufgeweicht, übersät mit Glasscherben zerschlagener Flaschen und kaputter Fenster.
Gegenüber der Fabrik befindet sich ein langer Unterstand. Drei riesige Graffitits ziehen mich mit ihrer Leuchtkraft in den Bann. Ich wate mit meinen viel zu dünnen Sonntagsschuhen durch den Morast, weiche den Glasscherben aus, um die Bilder an der Wand zu fotografieren.
Als ich fertig bin, trete ich mit der Kamera in der Hand zurück in den düsteren Gang. Kälte steigt durch die dünnen Schuhsohlen. Es wird Zeit für mich zu gehen.
Happy End?
Ich bin zufrieden. Die Speicherkarte des Fotoapparats ist gut gefüllt, ich habe meinen gewohnten Pfad verlassen, aber was mir noch viel wichtiger ist – ich habe eine Möglichkeit gefunden, meiner Kreativität eine neue Tür zu öffnen.
Ob die Tür blau ist oder ich dafür eine Treppe hinaufsteigen muss, ist dabei völlig egal – beim Blick durch den Sucher der Kamera kann ich den Alltag hinter mir lassen.
Die Gedanken „ruhen“ dann nicht einfach nur – wie das normaler Ablenkung geschieht – sie sind in der Lage Farben mit Formen, Zeit, Erinnerungen, Sinneseindrücke und Menschen zu verbinden. Eine Chance für neue Geschichten und eine Quelle, die Wind und eiskalten Regen Wert ist. Vor allem, wenn am Ende ein Regenbogen wartet 😉
Hallo “Ella“, ich habe es sehr gerne gelesen und habe mich gefragt ob du vielleicht nicht doch ganz hinein gegangen bist..?? Ich wüsste zu gerne wie es von innen ausschaut. Ich finde das Gebäude soo interessant und es ist schade, das sich keiner dieses Gebäude annimmt ( weder Stadtverwaltung, Semmelhaack, Pannen…usw.).
Schöne Grüße
B. R ..;)
Liebe B.R.,
ja, es ist ein absoltutes Trauerspiel, das es zu keiner Entscheidung kommt. Der Platz vor dem Gebäude wäre für Gastronomie geeignet, innen ein oder mehrere Restaurants, Theater, Galerie, Kinosaal, Co-Workingspaces oder Raum für Vereine – bloß keinen Supermarkt oder irgendwelche Klamottenläden. Flohmärkte, Second Hand Kaufhaus wäre auch denkbar. Nachhaltig und zukunftsorientiert, das wäre meine Vision für den Komplex und keinesfalls einen Teil der Gebäude abzureißen, um die Straße zu verbreitern, damit sich noch mehr Autos in die Innenstadt quälen können.
Ich finde, wir brauchen Gebäude, die leben und darauf wartet das Gebäude. Kampnagel für Elmshorn ;-).
Ich war bei dem diesjährigen Open Air Kino und dabei ist mir wieder aufgefallen, wie schnell sich die Stadt leert, wenn die Geschäfte schließen. Kurz vorher war ich in Lüneburg. Die Kulisse ist natürlich nicht vergleichbar, aber es wäre schon wünschenswert, in einer Stadt zu leben, die auch nach Schließung der Geschäfte noch als solche wahrgenommen wird. Doch das Herz der Knechtschen Hallen schlägt immer langsamer und ich befürchte, am Ende ist zu viel Zeit vergangen und es bleibt nur noch eines …