Das wichtigste Werkzeug eines Roman-Autors ist seine Fantasie. Der größte Alptraum, sie zu verlieren. Das ist mir passiert!
Das schlimmste daran: Ich habe es nicht bemerkt, erst als es schon fast zu spät war. Für mich war es absolut selbstverständlich, dass die ausufernde Fantasie, die mich in der Kindheit beflügelt hatte, immer präsent sein würde.
Im Wettstreit mit der Realität
Auch als junge Erwachsene lag ich oft mit der Realität im Wettstreit, denn sie passte so gar nicht zu der Welt in meinem Kopf. Während meine Umwelt langsam vernünftig wurde, streifte ich immer noch über Ebenen, ritt mit Soldaten oder übernachtete unter freiem Himmel. Meine Freunde merkten nicht, was sie verloren hatten. Sie trauerten der Fantasie aus Kindertagen genauso wenig hinterher wie ihren Milchzähnen. Sie war einfach fort oder so zahm, dass sie allenfalls Tagträume kolorierte.
Mich begleitete die Fantasie auf Schritt und Tritt. Bahnfahrten wurden zu Ausflügen in fremde Welten. Sie brachte mich mitten beim Einkaufsbummel zum Lachen, war verantwortlich für grandiose Gedankensprünge, die eine Gesprächsführung mit mir nicht immer einfach machten.
... verliert die Fantasie
Doch Fantasie braucht Nahrung und Aufmerksamkeit. Ich entzog sie ihr mit Arbeit, durchgeplanten Wochenenden, der Verführung der Oberflächlichkeit. Irgendwann merkte ich, dass eine Bahnfahrt eine Bahnfahrt war und ich nicht mehr in der Lage war, ein Kleid an einem Verkaufsständer mit einer schicken Blondine oder einer runzligen alten Frau zu füllen. Ich stand in einem Klamottenladen, es roch nach Chemikalien und das gnadenlose Neonlicht ließ keinen Zweifel offen: ich war in der Realität angekommen.
Ich versuchte, zu akzeptieren, was geschehen war und mich damit zu arrangieren. Die meisten Menschen leben hervorragend mit wenig oder gar keiner Fantasie.
Ich jedoch vermisste diese andere Welt schmerzlich. Einen winzigen Rest hatte ich mir mit gelegentlichem Schreiben erhalten, aber ich merkte, dass ich mich auch davon langsam löste.
Grüne Taubheit
Ein Problem lag darin, die Fantasie zu beschwören, sie zu visualisieren, ihre Fährte aufzunehmen. Wie holt man sich die Freiheit, jederzeit träumen zu können zurück? Ich hatte eine Distanz zwischen der Fantasie und mir geschaffen. Einen Raum, der mich in meiner Welt gefangen hielt.
Meine Welt war weiß. Es gab keine Konturen. Ein unendlich großer Raum mit quadratischen Fenstern, die abgerundete Ecken hatten. Durch die Fenster leuchtete ein satt grüner Frühlingswald.
Mich allerdings umgab erschreckende Taubheit. Kein Geruch nach feuchter Erde, Rinde oder frischem Grün. Kein Wispern der Blätter, kein Vogelgesang. Die Fenster boten einen fantastischen Ausblick, aber die Welt dahinter war eine Illusion, ein lebendiges Wandbild. Eindimensional.
Ich wollte zu einem der Fenster laufen, meine Arme durch die Öffnung strecken, frisches Grün pflücken. Ich konnte mich nicht rühren. Ich saß fest in diesem weißen Raum mit der großartigen Aussicht. Doch ich wollte hinaus. Ich wollte diese grüne Welt erleben, in ihr abtauchen, sie mit allen Sinnen wahrnehmen. Ich gab nicht auf. Ich versuchte zum Fenster zu gelangen. Ich hielt mich an dem Grün fest. Ich lockerte meine Muskeln, lernte Schritt für Schritt zu gehen.
Jahre lief ich an den Fenstern auf und ab. Der Wald schien sich nicht zu verändern, doch irgendwann schimmerte ein dunkles Band durch die Blätter. Ein Pfad. Er führte von meinem weißen Raum in den Wald. Ich jubelte, sprang umher und atmete die herrliche Frische des Walds ein. Bis mir der weiße Raum das größte Geschenk machte: eine Tür. Ich konnte hinaus. Ich zögerte nicht länger. Ich riss die Tür auf und rannte los.
Ich tauchte ab in das Grün, in einen Pool aus Geräuschen. Mit jedem Atemzug, mit jeder Drehung wuchs die Weite, dehnte sie sich ins Unendliche, füllte sich mit all den Dingen, die ich vermisst hatte.
Fantasie interessiert sich nicht für Alltag
Manchmal kehre ich zurück in den Raum. Die Wände geben mir Halt, auch wenn sie nicht mehr länger weiß sind. Sie nehmen jede Farbe an, jede Gestalt. Es gibt keine Tür, keine Fenster. Ich bin die einzige Grenze. Ich entscheide, wie viel Raum ich ihr gebe, statt umgekehrt. Die Fantasie ist zurück. Ich lasse sie nicht mehr gehen. Eher gehe ich.
So unglaublich die Welt der Fantasie ist, so fordernd ist sie auch. Sie verlangt Sätze, Seiten und das Überschreiten von Grenzen. Sie kennt keine Waschmaschinen oder Gehaltsabrechnungen. Der Alltag ist ihr egal. Sie ist verspielt wie ein Kind und lockt uns gleichzeitig in gefährliche Abgründe. Ihre Energie jedoch bezieht sie von uns. Vergessen wir sie zu füttern, zieht sie sich zurück. Lasst das nicht zu!
Malt wirre Muster in den Sand, trauert einer Liebe nach, die es nur in eurem Kopf gibt, bekämpft unheimliche Wesen oder verblüfft eure Kinder mit lila Bonbon-Bäumen.
Ich bin dabei!