Manchmal ist es gut, den Kopf auszuschalten. „Unvernünftige“ Dinge zu tun. Dinge von denen dir der Verstand abrät, weil sie tief aus dem Herzen kommen. Das geht dann entweder gehörig schief oder du gewinnst mehr, als du dir vorstellen konntest.
Im Februar vor einem Jahr, bekam ich spontan Urlaub. Obwohl nicht gerade die beste Urlaubzeit, nahm ich dankbar an. Ich hatte in den Monaten zuvor viele Zeit und Energie in einen neuen Job und ein neues Schreibprojekt gesteckt.
Aus irgendeinem Grund grub ich eine alte Idee aus: meinem Vater meinen Lieblingsort in Dänemark zeigen. Ich wollte ihm etwas Abwechslung gönnen, nachdem er jahrelang durch die Krankheit meiner Mutter zurückstecken musste.
Das Ganze hatte nur einen Haken. Wir sind wie Hund und Katze. Meine Mutter war bis zuletzt unser Streitschlichter oder die lachende Dritte, während wir mit Kräftemessen beschäftigt waren.
Einmal in den Sinn gekommen, ließ mich die Idee nicht los. Ich wagte es. Ich fragte. Ich rechnete mit einer Absage. Er sagte nach einem Tag Bedenkzeit zu.
Der Start war holprig. Mein Vater – eine ausgesprochene Lerche – stand pünktlich ab 6 Uhr morgens mit seinem Koffer wartend bereit, während ich über drei Stunden brauchte, um den Wagen zu packen.
Taschentücher, Wolldecke und Feuerholz. Bei einem Rentner (70+), der seit Jahrzehnten nicht mehr verreist war, wollte ich nichts dem Zufall überlassen.
Zum Glück passten wir anschließend auch noch ins Auto. Schweigend verbrachten wir sechs Stunden Fahrtzeit. Es dämmerte bereits, als wir endlich das Ziel erreichten und auf dem Parkplatz in der Nähe des Hafens ankamen.
Ein kräftiger eiskalter Wind und Nieselregen begrüßten uns. Eigentlich wollten wir beide nur noch ins gemietete Ferienhaus und der Gedanken auszusteigen war alles andere als verlockend. Trotzdem bat ich meinen Vater auszusteigen.
Wind und Gischt schlugen ihm ins Gesicht und die graugrünen Augen funkelten. Müde, aber ja, sie funkelten.
Gemeinsam kämpften wir uns um die schützende Häuserzeile und endlich lag vor uns, was meinen Vater und mich stets verbunden hat – das Meer, die Weite und die ungefilterte Kraft der Natur.
Wir standen lange am Strand. Bis unsere Lippen blau waren und der Wind jeden Funken Wärme aus unseren Jacken gezerrt hatte.
Nur eine Stunde später war der Wagen ausgeladen und mein Vater begriff, warum ich den Wagen mit Feuerholz beschwert hatte. Während die elektrischen Heizungen die winterlichen Schlafzimmer auftauten, gab es in dem großen Wohnzimmer mit offener Küche nur einen Kamin.
Nach dem ersten positiven Eindruck – Hafen und Haus – war ich der Meinung, erholsamen Tagen stünde nichts mehr im Weg. Lesen, Spazieren, leckeres selbstgekochtes Essen, wohlige Wärme aus dem Kamin und Panorama-Fenster, um Wind und Wetter aus der Distanz genießen zu können.
… und Ausschlafen!
Keine Chance! So ein dänisches Ferienhaus ist hellhörig. Und Eulen sollten sich 2 x überlegen, ob sie mit Lerchen in den Urlaub fahren wollen!
Tag 1: 5:55 Uhr – Radio zum Frühstück (Lautstärkeregler auf Anschlag! Papa, bist du schwerhörig?)
Tag 2: 6:02 Uhr – Pieps, Pieps, Pieps! Das ist kein vergessener Wecker, sondern der Trainingsalarm für die 2 Minuten Dehnungsübungen für Senioren
Tag 3: Zwischen 6 und 7 Uhr legt jemand gefühlt 15 Kilometer in schlurfigen Hausschuhen auf einem Fliesenboden zurück.
Tag 4: Das leckere Brot für das Frühstück um 5:45 ist fast alle. Hier kommt kein Krümmel weg und wenn er sich in der Bodenfalte der rascheligen Tüte befindet.
Tag 5: 6:10 Uhr. Es hat geschneit. Was für ein Anblick! Das muss man sich aus allen Blickwinkeln ansehen. Schade nur, dass sich die schweren Metallstühle auf dem Fliesenboden kaum bewegen lassen.
Tag 6: 6:15 Uhr. Stille. Papa sitzt barfuß am Tisch (eiskalter Fliesenboden!) und hat nur für sich gedeckt – damit ich einmal ausschlafen kann. Danke! Aber jetzt habe ich mich daran gewöhnt 🙂
Der frühe Tagesbeginn war sicherlich ein Streitpunkt, aber es ist uns gelungen, die Wogen zu glätten – früher oder später ;-).
Wir sind bei Sturm dick vermummt wie Michelin-Männchen am Strand spazieren gegangen.
Wir haben uns verlaufen. Aus einer „kleinen Runde“ wurde ein mehrstündiger Spaziergang. Kurz vor unserem Ferienhaus, machte eine überschwemmte Straße ein Weiterkommen unmöglich.
Da niemand zwei Wanderer per Anhalter durch den kniehohen eiskalten See mitnehmen wollte, hängten wir 7.000 Schritte an. Es ging durch die Dünen, rauf und runter, kreuz und quer und wir kamen dem Meer dabei auf den verschlungenen Wegen durch knorrige Heide und stachelige Büsche näher als der Straße.
Am nächsten Tag wollten wir es ruhig angehen lassen. Dieses Mal sollte die Wanderung auf den befestigten Wegen im Nationalpark Thy stattfinden. Uns hätte der einzige Wanderer in Gummistiefeln zu denken geben müssen.
Gelenkt bzw. abgelenkt von überfluteten Wegen und schließlich auch aufgehalten und zur Umkehr gezwungen, wurde auch an diesem Tag aus einem geruhsamen Spaziergang ein mittlerer Marsch von rund 16.000 Schritten.
Krönender Höhepunkt war allerdings der Ausflug nach Stenbjerg, einem verlassenen Fischerdorf mit einem traumhaften Strand – bei Wind und 2 Grad Celsius.
Mein Vater staunte über den gut gefüllten Rucksack inklusive Decke, bis er begriff, dass ich es ernst meinte. Wir machten ein Picknick am Meer!
Mit heißem Tee, Decke und Isomatte kuschelten wir uns in den Windschatten eines dieser malerischen Häuschen.
Dafür kam ich ihm entgegen und begleitete ihn nach Schneefall in der Nacht und trotz rutschiger Fahrbahn in das Bunkermuseum Hanstholm. Ich erwartete nicht viel – vor allem Beton und die Zurschaustellung von Macht, aber ich bekam das, was Autoren am meisten lieben: Geschichten.
Und nicht nur Geschichten über Greueltaten, sondern über den gelebten Alltag vor rund 80 Jahren. Von der Langeweile an der „Sahnefront“, von Streichen, Filmabenden, Sportveranstaltungen und einen Eindruck davon, wie es gewesen sein muss, mit rund 1000 Menschen auf engstem Raum zu leben.
Ich habe lange gezögert, ob ich diese Tage mit euch teilen soll oder nicht. Doch dieser Urlaub im Februar 2020 war ein besonderer. Kurz danach drängte sich Corona mit aller Macht in unser Leben. Die Grenzen wurden geschlossen und keiner wusste, was auf uns zukommen würde.
Wie viele andere hatte ich Angst um meine Familie und natürlich um meinen Vater. Wir konnten – nein, wir durften – uns nicht mehr sehen und alles, was wir hatten, waren diese 6 Tage am Meer.
Wir haben die Chance genutzt, obwohl wir wahrscheinlich beide Zweifel gehabt haben. Und wir haben gewonnen. Wir haben einander wieder kennengelernt. Wir haben neue gemeinsame Momente geschaffen.
Als Autorin habe ich aus diesen paar Tagen viel mitgenommen. Es ist nicht nur wichtig, Zeit zum Schreiben zu haben, sondern auch Zeit zum Erleben – den Speicher mit neuen Bildern füllen.
Als Mensch hat es mich darin bestärkt, dass es wichtig ist, sich ein Herz zu nehmen und Dinge in Angriff zu nehmen. Nicht nur fragen „Was wäre wenn …“.